Ein neues Nato-Kaliber für Sturm­gewehre?

Von Dr. Martin Krause //

Am 19. April 2022 erklärten die US-Streitkräfte im Rahmen der Next Generation Squad Weapon Aus­schrei­bung (NGSW) für die US Army neue Sturm- und Maschinengewehre von SIG Sauer im Kaliber 6.8×51 mm zu beschaffen, um dadurch das Sturmgewehr M4 sowie die Maschinengewehre M240 und M249 zumindest teilweise durch das XM5 bzw. das XM250 zu ersetzen. Hat diese Entscheidung das Potential, die gesamte Waffen- und Munitionslogistik der Nato-Länder im Bereich militärische Gewehre grundlegend zu verändern?

Hintergrund

2017 startete das US-Militär das Next Generation Squad Weapon Programm (NGSW), um das Sturmgewehr M4 sowie die Maschinengewehre M240 und M249 inklusive Munition in den beiden Nato-Kalibern 5.56×45 mm und 7.62×51 mm zu ersetzen. Die kontroverse Diskussion über die Leistungsfähigkeit dieser beiden Kaliber ist schon Jahrzehnte alt und orientiert sich unter anderem an Aspekten wie Rückstoß, Patronengewicht, Reichweite, Zielwirkung, etc. Zuletzt wurde die Durchschlagsleistung des kleineren Nato-Kalibers 5.56×45 mm als zu gering eingeschätzt, da insbesondere ballistische Schutzwesten immer ausgereifter und stärker verbreitet sind. Um hier einen sinnvollen Kompromiss in Form eines neuen Mittelkalibers zu finden, gab die Ausschreibung 6.8 mm Projektile vor und forderte, die entsprechende Patrone dafür zusammen mit den Waffen zu entwickeln.

Von den verbliebenen Teilnehmern hat sich letztendlich SIG Sauer durchgesetzt mit dem MCX-SPEAR und dem LMG-6.8 sowie der SIG 6.8×51 mm Hybridpatrone, welche aus einer Messinghülse mit Stahlboden besteht. Zuvor unterlegene Mitbewerber verfolgten Konzepte basierend auf Polymerhülsenpatronen bzw. einer teleskopierten Munition. Ferner wurde die XM157 Optronic von Vortex gewählt, was angesichts des integrierten Ballistikrechners und der Sensorpakete einen deutlichen Schritt in Richtung digitalisiertes Gewehr bzw. Smart Rifle darstellt. Insgesamt sollen in den kommende 5 Jahren bis zu 1,4 Mrd. USD investiert werden.

Bedeutung für Deutschland und Europa

Die aktuelle Ausschreibung für ein neues Sturmgewehr der Bundeswehr läuft jetzt schon seit über einem halben Jahrzehnt, zuletzt waren noch die beiden Hersteller Heckler & Koch sowie C.G. Haenel im Rennen. Auf die technische Bewertung der Waffen im Kaliber 5.56×45 mm Nato folgte ein juristisches Tauziehen, Ausgang unklar.

Gerade vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Situation erscheint eine deutlich engere transatlantischen Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung sinnvoll. Insofern kann man sich fragen, ob die Bundeswehr für die nächsten Jahrzehnte ein neues Sturmgewehr im Kaliber 5.56×45 mm beschafft, wenn mit den USA der mit Abstand wichtigste NATO-Verbündete dieses Kaliber bereits heute für zu klein, zu schwach und veraltet hält.

Als theoretisch mögliches Szenario könnte die Zeit bis zur Einführung einer neunen Waffe im Kaliber 6.8×51 mm durch ein eventuelles Midlife-Upgrade des aktuell genutzten G36 überbrückt werden. Dies würde allerdings auch voraussetzen, dass in absehbarer Zeit zertifizierte Munition verschiedener Hersteller verfügbar ist. Die Kaliberdiskussion wird sicherlich auch bei jeder weiteren zukünftigen Ausschreibung für Sturmgewehre oder Maschinengewehre in Europa neu geführt werden und es besteht die Möglichkeit, dass hier de facto ein neues NATO-Standardkaliber in Ergänzung zu den bisherigen entsteht.

Allerdings beschränken sich die Folgen der NGSW Ausschreibung für Europa nicht nur auf den Bereich Waffenhersteller. Vielmehr müssen europäische Munitionshersteller auch eigene Munition im Kaliber 6.8×51 mm entwickeln und zertifizieren. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass europäische Optronikhersteller ihr Produktportfolio konsequent in Richtung digitaler Zielhilfen weiterentwickeln, beispielsweise mit Laserentfernungsmessern, Ballistikrechnern und digitalen Display-Overlays. Das Ziel ist, auch bei größeren Kampfentfernungen eine hohe Treffergenauigkeit zu gewährleisten. Und nicht zuletzt müssen gleichzeitig auch die ballistischen Schutzwesten so optimiert werden, dass Soldaten europäischer Streitkräfte hinreichend geschützt sind.

Technische Herausforderung

Aktuell hat kein Hersteller aus Deutschland eine serienreife militärische Waffe im Kaliber 6.8×51 mm oder die zugehörige Munition im Angebot und die wenigsten Hersteller in Europa werden bis heute mit diesem Kaliber überhaupt gearbeitet haben.

Militärisch zuverlässige Waffen in einem neuen Kaliber sowie die Munition dafür lassen sich nicht über Nacht entwickeln, sondern fordern erheblichen Ressourcenaufwand. Vereinfacht könnte man sich vorstellen, eine bestehende Waffe im Kaliber 5.56×45 mm oder 7.62×51 mm zu skalieren und auf das neue Kaliber umzurüsten. Dies bringt aber zunächst eine Vielzahl technischer Probleme mit sich, für welche die neue Waffe noch im Detail optimiert und mit teils sehr erheblichem Aufwand angepasst werden muss. Hierzu zählen beispielsweise die Druckverläufe in Patrone und Rohr, das hochdynamische Verhalten des Gaslademechanismus, sowie die veränderten Belastungen auf die Gesamtstruktur. Insofern sollte ein militärisches Gewehr für eine neue Patrone idealerweise als Neuentwicklung erfolgen, welche im Rahmen einer Produktfamilie durchaus auf bewährten Konzepten basieren kann. Eigene Standards setzt man insbesondere dann, wenn Waffe und Munition als System aufeinander ausgelegt sind.

Neue Chancen

Sollten also in absehbarer Zukunft in Europa Gewehre im neuen Kaliber 6.8×51 mm, die entsprechende Munition oder zugehörige Optroniken ausgeschrieben werden, werden die Karten unter den potenziellen Herstellern neu gemischt. Dasselbe gilt auch für den Fall, dass die aktuell laufende Ausschreibung für das neue Sturmgewehr der Bundeswehr tatsächlich neu aufgesetzt werden sollte. Neu gemischte Karten bedeuten konkret, dass dann auch kleinere Hersteller oder ausländische Hersteller, die bei großen Ausschreibungen bisher eher in der zweiten Reihe hinter den etablierten Playern standen, eine gute Chance haben sich zu positionieren.

Der Schlüssel zum Erfolg wird darin bestehen, die neue Technologie schneller als die Konkurrenz zu entwickeln und zu erproben, also die notwendige Innovation schnell umzusetzen. Der Konkurrenz durch verkürzte Entwicklungszyklen davonzulaufen wird jedoch nur möglich sein, wenn Erfahrungswissen, experimentelle Erprobung und neue Methodik in den Entwicklungsprozessen auf intelligente Weise miteinander kombiniert werden. Dies geschieht beispielsweise durch das konsequente Nutzen moderner Simulationstechnik in Verbindung mit Kooperationspartnern aus Forschungseinrichtungen und Universitäten. Langwierige versuchstechnische Erprobungen können so verkürzt und experimentelle Datensätze mit hochwertigen Machine Learning Algorithmen ausgewertet werden. Ferner stellt der Einsatz neuer Materialien kombiniert mit innovativen Fertigungsverfahren wie beispielsweise 3D-Druck einen fortschrittlichen Ansatz dar, genauso wie eine modular integrierte Sensorik zur optionalen Digitalisierung einer Waffe.

Wer diese strategische Chance erkennt und das disruptive Potential der Situation zu nutzen versteht, kann das Rennen um zukünftige Aufträge und die damit verbundene Marktposition gewinnen. Der Ukrainekrieg legt für die kommenden Jahrzehnte den Fokus wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung im Szenario eines symmetrischen Krieges, für den das 5.56×45 mm Kaliber als potentiell zu schwach angesehen wird. Der Wechsel hin zu einem größeren und leistungsgesteigerten Kaliber ist nicht nur durch die zunehmende Verbreitung von Schutzwesten zu begründen, sondern auch die beispielsweise deutlich verbesserten Zielhilfen schaffen neue Möglichkeiten. Wenn sich Hersteller hier Marktchancen ausrechnen, sollten sie aufgrund der langen Entwicklungszeiten ihre Aktivitäten zeitnah starten. Bei ACTRANS als Managementberatung mit einem Fokus auf Technologie und Innovation unterstützen wir unsere Klienten dabei, ihre Produktportfolios, ihrer Abläufe sowie ihrer Technologien auf Wachstum und Innovation auszurichten.