Agile Methoden in komplexen Aerospace & Defence-Projekten
Von Dr. Martin Kraus //
Der Ursprung agiler Methoden
Vor etwa 25 Jahren begann der Hype um „Lean“: Lean Management, Lean Production, Lean etc. Das Buzz-Word der heutigen Zeit ist „Agile“. Bei unseren Kunden und in der gesamten Industrie finden wir Change-Projekte rund um Agilität: Agiles Unternehmen, agiles Management, agile Entwicklung, agile Prozesse usw. Aber wir sehen ein sehr diffuses Bild über das, was unter „agil“ verstanden und was mit diesen Veränderungsprojekten erreicht werden soll.
Seinen Ursprung, wenn man das überhaupt so sagen kann, hat „Agile“ Mitte der 90er Jahre im von Jeff Sutherland und Ken Schwaber im „Agile Manifesto“ beschriebenen Prozess-Modell, das in seiner Anwendung allgemein als „Scrum“ bekannt ist. Im Fokus standen dabei Software-Entwicklungen, bei denen sowohl die Produkteigenschaften als auch der Weg der Realisierung am Projektbeginn nicht eindeutig sind.
Zur Klärung der Frage, wann ein Projekt mit einer agilen oder einer „klassischen“ Methode im Entwicklungsprozess und Projektmanagement durchgeführt werden soll, wurde von Ralph Douglas Stacey ein Kriterienkatalog erarbeitet, der als „Stacey-Matrix“ bekannt wurde.
Das Prozessmodell Scrum selbst ist einfach, aber in einer Weise so stringent, dass der Prozess als solcher keinesfalls als agil bezeichnet werden kann. Außenstehende erliegen hier häufig schon dem ersten Missverständnis. Weiterhin ist Scrum nur ein Ansatz beim Versuch, Komplexität zu beherrschen. Verringern kann man sie damit nicht. Der Nachweis, dass Scrum in größeren, komplexen Softwareprojekten erfolgreich umgesetzt wurde, ist m.E. bisher nicht erbracht.
Der Transfer agiler Methoden in den Bereich Aerospace & Defence
Zunehmend wird versucht, die Scrum-Methodik auch auf andere Produktentwicklungsprojekte und dementsprechend auf das Projektmanagement zu übertragen. Hierfür gibt es gute Ansätze, allerdings erst dann, wenn man die Ideen und Prozess-Elemente aus dem „Agilen Manifest“ in geeigneter Weise adaptiert. Womit man sich, zumindest aus Sicht der „ideologischen Urväter“, von Scrum entfernt.
Den Scrum-Hype ausnützend bewerben manche Unternehmen ihre Produkte sogar damit, dass sie mit agilen Methoden entwickelt wurden. Damit erheben sie Scrum und agile Methoden zu einem Qualitätsmerkmal, was sie aber definitiv nicht sind.
Die Aerospace & Defence-Welt unterscheidet sich von der Software-Industrie (z.B. Gaming, VR, App-Entwicklung) oder der Konsumgüter-Welt in vielen Punkten teilweise grundlegend, z.B.:
- Die Vorhaben sind umfangreicher, d.h. sie involvieren große Teams, viele Personen, Partner und Lieferanten.
- Die Projekte sind oft multi-national mit Partnerfirmen in unterschiedlichen Ländern und Standorten. Das erfordert das Zusammenkommen unterschiedlicher Prozesswelten und – vor allem – Kulturen.
- Diese Komplexität ist das Spiegelbild der Kundenseite mit unterschiedlichen Anforderungen an ein Produkt oder ein System sowie mit teils gegenläufigen politischen und wirtschaftlichen Interessen (z.B. „local workshare“).
- Die Entwicklungsprojekte sind komplex und beinhalten meistens Komponenten, bei denen die Grenzen der Machbarkeit ausgereizt werden.
- Die Entwicklungs- und Produktlebenszyklen sind viel länger als in den dynamischen, verbrauchernahen Industrien.
- Obwohl immer mehr Funktionalität durch Software realisiert wird, wird die Gesamtperformance durch die Integration von Hard- und Software und mit einer Plattform erreicht.
- Komplexe Qualifikations- und Zulassungsvorgaben beeinflussen sowohl das Design selbst als auch alle Entwicklungs‑, Fertigungs- und Nachweis-Prozesse.
Trotzdem sind agile Methoden und Denkweisen in der A&D-Welt anwendbar. In welchem Umfang und für welche Elemente eines Produkts oder Systems sollte jedoch jeweils sorgfältig analysiert werden. Bestimmte Phasen eines Projekts sind möglicherweise besser geeignet als andere. Z.B. ist die Konzept- oder auch die Definitionsphase eines Projekts geeignet, mit Scrum-nahen Ansätzen bearbeitet zu werden. Voraussetzung ist, dass sich alle Partner und vor allem auch der Kunde bzw. die Kunden auf ein solches Vorgehensmodell einlassen, das ein hohes Maß an Interaktion erfordert. So kann als Ergebnis eine von allen Seiten gleich verstandene und gemeinsam getragene Produktbeschreibung oder Spezifikation stehen.
Auch eine Software-Architektur oder spezifische Software-Funktionen können mit Scrum oder zumindest davon abgeleitet entwickelt werden. Hierfür sind jedoch generell neue SW- und SW/HW-Architekturen erforderlich. „App“-nahe Anwendungen in einem funktionalen SW-Verbund ermöglichen nicht nur agile Entwicklungsmethoden, sie erlauben auch flexiblere Anpassungen während des Produktlebenszyklus.
Agile Methoden im Widerspruch zu anderen Vorgehensmodellen?
Für viele Projekte in unserer Branche ist die Anwendung des „V-Modells“ vertraglich vereinbart. Das V-Modell hat sich seit seiner Einführung (übrigens durch den deutschen öffentlichen Auftraggeber) sehr bewährt und hat auch Eingang in nicht-militärische Bereiche gefunden. Heute hört oder liest man gelegentlich, dass Unternehmen das V-Modell durch agile Methoden ersetzen wollen. Auch hier liegt ein Missverständnis vor. Die beiden Vorgehensmodelle stehen keineswegs im Widerspruch. Agile Methoden lassen sich mit dem V-Modell problemlos verbinden. Die Vorteile und die Logik des V-Modells sollten nicht ad acta gelegt werden. Auch als formale Grundlage für die Qualifikation und die Zulassung ist es bewährt.
Ein gerne gewähltes Beispiel für eine Scrum-Anwendung in der jüngeren Luftfahrt ist die Gripen E von SAAB. Allerdings steht hierfür lediglich ein mit dem „Scrum-Institute“ gehaltener Vortrag als öffentlich zugängliche Quelle zur Verfügung. Weitere Recherchen und persönliche Diskussionen mit SAAB zufolge wurden alle Prozesse auf „agil“ umgestellt und auch sicherheitskritische Software mit Scrum entwickelt. Allerdings lassen die Gripen-Programmverzögerungen zumindest gewisse Zweifel an der erfolgreichen Implementierung zu.
In der A&D-Industrie stellen sich hybride Vorgehensweisen in der Entwicklung und im Projektmanagement als beste Lösung heraus. Bei den agilen Methoden dürfte sowohl für das Management als auch den Kunden eine Herausforderung beispielsweise darin bestehen zu akzeptieren, dass beim Start des (Teil-)Projekts weder eine Zeit- noch eine Budgetplanung existieren und auch nicht bekannt ist, in welcher Abfolge welche Teillösungen und Zwischenprodukte verfügbar sind.
Unternehmensweite Agilität
Lenkt man den Fokus auf das Gesamtunternehmen, dann muss eine „Agilisierung“ ganzheitlich betrachtet und angegangen werden. Es ist per se nicht ausreichend zu fordern, die Entwicklung oder die Fertigung müsse agiler werden. Es müssen dann alle operativen Kernprozesse und die Managementprozesse erst der Analyse und dann der Veränderung unterzogen werden.
Für ein größeres, vielleicht sogar unternehmensweites Veränderungsprojekt unter dem Leitsatz „Wir wollen agiler werden!“ müssen am Anfang vor allem ein übergreifendes, gemeinsam getragenes Verständnis von „Agilität“ und „agil“ geschaffen sowie die übergeordneten Ziele des Projektes klar und verständlich vereinbart werden. Andernfalls ist schon das Veränderungsprojekt selbst das Gegenteil von agil und wird wirkungslos bleiben.
Für eine Initialdiskussion und bei der Erarbeitung der Zielsetzungen eines „Agility“-Veränderungsprojekts steht Ihnen das ACTRANS-Team zur Verfügung.